"Man wird gern in Ruhe gelassen"

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 4/2010

Die einen besitzen jede Menge, die anderen fast gar nichts - arme und wohlhabende Menschen haben immer weniger miteinander zu tun. Manchmal kommen sie doch zusammen: in Freundschaften und Familie.

Nein, sagt Joachim Niering, Geburtstagsfeiern seien kein Problem. Aber neulich, da habe ihn ein Freund nicht zum Firmenjubiläum eingeladen. Aus Angst vermutlich. Der ganze Parkplatz voller großer Autos, viel Erfolg, viel Geld, wichtige Geschäftspartner und Kunden. Und dazwischen er? Das sei dem Freund wohl zu gefährlich gewesen.

Angst vor Joachim Niering? An dem 53-jährigen Krefelder ist nichts Furchteinflößendes zu entdecken. Der Blick aus seinen blauen Augen ist offen und freundlich, beim Zuhören neigt er aufmerksam den großen Kopf. Im Anzug hätte er auf der Jubiläumsfeier sicher eine gute Figur gemacht. Das Problem ist, dass Joachim Niering außer seiner Persönlichkeit nichts mehr zu bieten hat. Vor vier Jahren hat er Insolvenz beantragen müssen, erst für seine Firma, die in mehreren Ländern Lizenzen zur Keramik- und Porzellanreparatur vertrieb, dann privat.

Seitdem ist der studierte Pädagoge arm wie eine Kirchenmaus. Das Haus, die beiden Autos, die Lebensversicherung, die Kapitalanlagen, die Kreditkarte – nichts davon ist ihm geblieben.  

Daran muss man sich erst mal gewöhnen. Als Betroffener, aber auch als Freund und Freundin, Bruder und Schwester. Sie alle haben jetzt viel mehr als Joachim Niering und das wirft heikle Fragen auf. Wie trifft man sich mit einem Freund und Bruder, der in einer winzigen Einzimmerwohnung lebt? Wer zahlt das Bier? Darf man von seinen Urlaubsplänen und dem neuen Auto erzählen? Was ist mit Geburtstagsgeschenken? Bevor Joachim Niering arm wurde, haben sich seine Freunde und Geschwister über solche Sachen keine Gedanken gemacht. Nun stehen ständig schwierige Entscheidungen an. „Es hat sich viel verändert“, sagt Joachim Niering. „Man wird gern in Ruhe gelassen.“

Sitzt er mit Freunden und Geschwistern zusammen, ist er derjenige, der das Gespräch eröffnet. Dabei zieht er alle Register. Unterhaltungen über Wirtschaftsthemen und die Firmen der anderen würzt er mit Selbstironie, Bemerkungen wie „Was machst du denn so den ganz Tag über?“ oder "Du bist ja nicht der einzige, dem so was passsiert ist!" überhört er geflissentlich. Wenn peinliche Pausen auftreten, plaudert er die betretene Stimmung mit seinem sonoren Bass tapfer weg. Außerdem versucht er das Gespräch immer wieder auf seine jetzigen Themen und Interessen zu lenken, damit die anderen den Anschluss nicht verlieren. Das ist nicht leicht. „Wir haben das neue Leben nicht gemeinsam entdeckt“, sagt Joachim Niering. Seine Engagement bei den Anonymen Insolvenzlern und seine ehrenamtlich Arbeit mit Demenzkranken fänden zwar alle löblich, aber eben auch ganz weit weg.

Diese Hürde fällt weg, wenn die anderen einen nie anders kennengelernt haben als knapp bei Kasse. Manuela Haan aus Berlin hat immer rechnen müssen. Ihr Sohn war noch keine drei Jahre alt, als sie und ihr Mann sich getrennt haben. Unterhalt hat sie von ihm nie bekommen, dafür litt der Sohn an Neurodermitis und Asthma. Manuela Haas brach ihr Studium ab und schlug sich mit Kneipen- und Putzjobs durch. Immer wenn der Sohn einen neuen Krankheitsschub bekam, wurde es schwierig. Oft verlor sie die Arbeit in diesen Phasen. Auch mit der Ausbildung zur Reformhausfachberaterin verbesserte sich die finanzielle Lage nicht. Trotz voller Stelle lag ihr Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau. Seit ihr Arbeitgeber Insolvenz anmelden musste, leben sie und ihr Sohn vom Arbeitslosengeld und ergänzendem Hartz IV.

Ihren Freunden gegenüber, zu denen Lehrer, Angestellte und auch eine Unternehmerin gehören, hat die heute 51-Jährige aus ihrer schwierigen finanziellen Lage nie ein Geheimnis gemacht. „Alleinerziehend zu sein und keinen Hortplatz zu finden, kann ziemlich ruinös sein“, sagt sie. Umgekehrt vertuschen und verkneifen sich auch die Freunde nichts. Wenn sie etwas Neues angeschafft haben, präsentieren sie es Manuela Haan genauso stolz wie ihren wohlhabenderen Freunden auch. Steht ein Urlaub an, fragen sie, ob sie die Blumen gießen kann. Auch bei Gesprächsthemen gibt es keine Extraregel. Mal quatschen sie über alte Kinderladen-Zeiten in einer Altbauwohnung unter Stuck, mal diskutieren sie die Berliner Politik im sozialen Wohnungsbau mit einer vierspurigen Straße hinter den Wohnzimmerfenstern. Je nachdem wer gerade dran ist und wie es gerade passt.

Frei von Neid ist Manuela Haan deshalb nicht. „Neid – nicht Missgunst“, betont sie. Liebend gern hätte sie ihrem Sohn dasselbe geboten, wie die Freunde den Kindern: „Urlaub im Ausland, Sprachreisen, Klavierunterricht, Führerschein.“ Auch das „an vielen Stellen entspanntere Leben“ und den sorglosen Blick ins Alter, wünscht sie sich gelegentlich herbei. Außerdem flackert immer wieder mal die Angst auf, dass man ihr vorwerfen könnte, an ihrer „finanziellen Schieflage“ selbst schuld zu sein. Anzeichen dafür gibt es nicht. Trotzdem hat Manuela Haan beschlossen, ihre Freunde nie um Geld zu bitten und auch Einladung nie als selbstverständlich anzunehmen. Lieber nachts schlaflos, als ihre Unabhängigkeit gegenüber den Freunden zu verlieren: „Dauernd dankbar zu sein, geht nicht.“

Freundschaften und Geschwisterbeziehungen zwischen armen und wohlhabenden Menschen erfordern ein hohes Maß an gegenseitigem Einfühlungsvermögen und Reflektion. „Man kann enorm viel falsch machen“, sagt Rolf Haubl, Psychologieprofessor an der Universität Frankfurt und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts. Meist würden diejenigen, die wenig Geld haben auf Hilfsangebote und Rücksichtnahme sehr sensibel reagieren. Auf der anderen Seite gebe es eine große Angst, den anderen zu beschämen und zu brüskieren. „Ist Geld im Spiel, wird es oft krampfig.“

Häufig rücken Menschen deshalb voneinander ab, wenn ihre Einkommen zu weit auseinander klaffen. Dass an Freundschaften und Geschwisterbeziehungen zudem hohe moralische Ansprüche gestellt werden, mache es nicht leichter, meint der Psychologe: „Man erwartet, als ganzer Menschen wahrgenommen zu werden. Da darf der Besitz keine Rolle spielen.“ Bei Geschwistern kommt erschwerend noch die alte Rollenverteilung hinzu. Haben sie in der Kindheit stark miteinander konkurriert, stehen die Chancen, dass es ihnen gelingt, eine materielle Kluft zu überbrücken, eher schlecht. Haben sie das Gefühl, von den Eltern gleich behandelt worden zu sein, bewältigen sie den Unterschied hingegen meist gut. Dann gilt das alte Sprichwort: Blut ist dicker als Wasser.

Anne-Kathrin Lenz steht immer wieder in Darmstadt in der Post und gibt Pakete nach Berlin auf. Der Empfänger: Florian Alberts, ihr jüngster Bruder. Mal schickt sie ihm ein Hemd, mal einen Pullover. Einige davon sind neu, manche hat ihr Sohn getragen, der dieselbe Statur wie ihr Bruder hat: groß und schlank, mit langen Armen. Die drei anderen Geschwister füllen andere Lücken: eine Bahnfahrt zur Mutter ins Sauerland, eine Woche Reiterferien für Florian Alberts achtjährige Tochter. Als Belastung empfinden sie das nicht. Eher als Selbstverständlichkeit. Der Literaturhistoriker und gelernte Buchhändler findet als trockener Alkoholiker. Als alleinerziehender Vater findet er keine Stelle. „Unter uns Kindern war eine ganz enge Bindung und von unseren Eltern haben wir mitgekriegt, dass denjenigen geholfen wird, die es brauchen“, sagt Anne-Kathrin Lenz. „Man lässt niemanden im Regen stehen.“

Diese solidarische Haltung kommt auch den Freunden der Jazzkritikerin zugute. Anne-Kathrin Lenz und ihr Mann, der selbstständiger Architekt und Jazzmusiker ist, sind tief in der Darmstädter Musik- und Kulturszene verwurzelt. Ein Milieu, in dem die Menschen nur selten gut verdienen. Die Rechnung in der Kneipe übernehmen, Geld leihen und auch Geld verschenken – Kathrin Lenz und ihr Mann haben all das schon oft gemacht. Ihr höchster verschenkter Geldbetrag liegt bei 400 Euro.

Dabei haben sie viele gute, aber auch ein paar schlechte Erfahrungen gemacht. Manche Freunde sind über das geliehene Geld zu ehemaligen Freunden geworden, weil sie die Summe nicht zurückgezahlt haben. Bei einigen anderen haben sich Anne-Kathrin Lenz und ihr Mann im Nachhinein gefragt, ob die Freunde das Geld wirklich gebraucht haben oder ob „sie einfach nur nicht aktiv werden wollten“. Inzwischen nehmen sich die beiden das Recht heraus, jede Bitte um finanzielle Hilfe kritisch zu prüfen: „Muss es wirklich sein oder nicht?“ Auch ihnen falle das Geld schließlich nicht zu, sagt die 55-Jährige.

Gleichzeitig weiß sie, welches Ausmaß die Scham annehmen kann, wenn das Geld nicht reicht. Als der familieneigenen Gärtnerei vor vielen Jahren die Pleite drohte, hielt ihr Vater die Probleme lange geheim. Aus deshalb findet Anne-Kathrin Lenz es gut, dass ihr Bruder, den sie als Literaturkenner und Gesprächspartner sehr schätzt, die Hilfe seiner Geschwister annehmen kann. 360 Euro bekommt Florian Alberts vom Amt, dazu kommen 100 Euro, die er in einem 1-Euro-Job als Leseförderer an einer Schule bekommt. Eine Arbeit, die ihm ungemein Spaß macht und die in seiner kulturbegeisterten Familie gut ankommt. „Innerlich bin ich reich“, sagt er 45-Jährige.

Auch Manuela Haan punktet bei ihren Freunden mit Wissen und Bildung. Immer hat sie sich von ihrem bisschen Geld eine Tageszeitung abgezwackt, in ihrem Bücherregal stehen Bücher über Geschichte, Wirtschaft, Psychologie und Philosophie. Auch deshalb habe sie sich gegenüber ihren Freunden nie wirklich arm gefühlt, sagt sie. Auch Joachim Niering findet, dass er Freunden und Geschwistern nach wie vor eine Menge zu bieten hat. „Mit mir wird es nicht langweilig und ich kann hervorragend improvisieren“, sagt er. Als es auf den Sommer zuging, stellte er fest, dass seine Freunde dies sehr wohl zu schätzen wissen. Gleich dreimal hätte er ohne dafür zu bezahlen Urlaub machen können. Einmal auf Kreta mit einer alten Dame, die er regelmäßig besucht, dann in Südfrankreich im Ferienhaus einer Freundin und schließlich am Gardasee, wo er gegen freie Kost, Zelt und Fahrt zusammen mit einem Freund aus alten Sozialarbeiter-Tagen ein Jugendcamp hätte betreuen können. Über alle drei Angebote hat er sich gefreut, „denn allen ging es um mich als Person“.

Auch für andere, früher teure Dinge haben sich unkonventionelle Lösungen gefunden, von denen seine Freund und Geschwister profitieren. Als Joachim Niering seinen 50. Geburtstag feierte, bettete er das Fest in eine öffentliche, von ihm organisierte 60er Jahre-Party mit einer Beatles-Revival-Band ein. Auch Manuela Haan feierte ihren 50. – mit einer Bottleparty zuhause. Die Feier ging von 18 bis 2 Uhr morgens. „Die Scham nimmt ab. Jeden Tag ein bisschen“, hat Joachim Niering festgestellt. Vielleicht verschwindet mit der Zeit auch die Angst. Möglicherweise ist Joachim Niering beim nächsten Geschäftsjubiläum seines Freundes wieder dabei.