Besser wohnen

Menschen - das magazin, 1/2006

Was viele für eine austerbende Art des Wohnens hielten, lebt in frischer Form wieder auf. Die Kommune ist zurück. Pragmatischer als in den 60er-Jahren finden sich in ganz Deutschland Menschen zusammen, die mehr als nur Nachbarn sein wollen.

„Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen.“ (Mahatma Gandhi)

Köln-Mühlheim am Morgen des 3. November 1979. Eine Gruppe aus Sozialarbeitern, Obdachlosen und Menschen mit Behinderung steht aufgekratzt vor dem Eingangstor der alten Spirituosenfabrik in der Düsseldorfer Straße. Das Tor ist mit einer schweren Eisenkette gesichert, dahinter locken majestätische Bäume, wilde Hecken und vier leer stehende Häuser aus der Gründerzeit. Die Gruppe hat einen Bolzenschneider dabei. Als die Kette dem Druck nachgibt, bricht Jubel aus. „Wir haben Wohnraum für ganz viele Menschen gebraucht“, sagt die heute 57-jährige Ranne Michels. Es ist die erste von vielen Kraftanstrengungen, die die „Sozialistische Selbsthilfe Mühlheim e.V.“ von da an gemeinsam unternimmt.

Auf der anderen Seite des Tores, 26 Jahre später. Das Gesicht von Freddy Bettelmann hellt auf. Asia Schramm, die Köchin für heute, schleppt einen Rosenkohl-Auflauf zum großen Tisch, auf dem Herd steht ein Backblech mit Schnitzeln. Freddy holt Besteck und einen Teller. Dann schaut er erwartungsvoll sein Gegenüber an. „Weißt du eigentlich, dass ich zwei Hamster habe?“ Ein gepeinigtes Stöhnen geht durch die Reihen.

Dem geistig behinderten Freddy wird bei der SSM selten der Mund verboten. Es sei denn, er redet zum tausendsten Mal von seiner neuen Geschäftsidee, einer Hamsterzucht. Fünf Euro soll ein Tier bei Freddy kosten, für weitere hundert gibt es einen Käfig dazu. Die erste Generation junger Hamster hat bereits das Licht der Welt erblickt.

Es ist vieles möglich bei der SSM: ein erfülltes Leben mit 160 Euro im Monat, der Betrieb eines Umzugs- und Entrümplungsunternehmens, die Integration von ehemals Obdachlosen und Drogenabhängigen. „Eine Hamsterzucht“, sagt Ranne Michels später in ihrem gemütlichen Portiershäuschen, „ist es nicht!“

Die Sozialistische Selbsthilfe Mühlheim mit ihren zwanzig Erwachsenen und vier Kindern ist etwas Besonderes, und doch kein Einzelfall. Macht man sich erst mal auf die Suche, hat man schnell das Gefühl, dass es überall in der Republik Horte neuer Lebens- und Arbeitsentwürfe gibt. Ihre Gründer sind keine Sozialromantiker und keine ideologisch Verbrämten, auch keine Leistungsverweigerer oder an der Gesellschaft Gescheiterte. Eher Menschen wie du und ich, mit denen man gerne einen Kaffee trinken geht oder abends beim Sport zusammen schwitzt. Menschen, wie Ranne Michels eben oder Nicole und Christan Lampe, sie Finanzbeamtin bei der Stadt Hamburg, er Umwelttechniker im Hausmannstand.

Vor gut einem Jahr haben die beiden zusammen mit 150 anderen Erwachsenen der Stadt Hamburg sechseinhalb Hektar Land abgekauft. Auf dem Gelände soll ein neues Dorf entstehen. Ein Dorf, das sich in seiner Satzung zu „verantwortlichem Handeln im Sozialen, Ökologischen und Wirtschaftlichen“ verpflichtet und das sich als Name einen wohlig-weich klingenden Begriff aus dem Mittelalter gewählt hat: „Allmende“. So hieß damals die von allen Dorfbewohnern bewirtschaftete Fläche.

Das Haus von Nicole und Christian Lampe, ein in warmen Rottönen gestrichenes Niedrigenergiehaus, das sie mit weiteren sieben Parteien teilen, liegt im hinteren Teil der Allmende. Der Weg dorthin führt durch Pfützen und Matsch. Noch sind nicht alle Häuser fertig. Bretter, Bohlen und Steine liegen herum und auf den Gerüsten stehen Bauarbeiter.

Sie geben der Allmende drei bis vier Jahre. Die Lampes sind zuversichtlicher. Zwar finden auch sie Diskussionen mit oft bis zu 60 Menschen "ziemlich quälend". Andererseits haben die Allmendianer auf einer solchen Sitzung ohne eine einzige Gegenstimme für deutliche teurere, barrierefreie Wege gestimmt. Auch sonst sind die Lampes begeistert über den Umgang mit ihrem spastisch gelähmten achtjährigen Sohn. „Wenn man hier mit Erik durch dir Gegend fährt, fragen alle Kinder `Erik, wie geht es dir?´“, sagt Christian Lampe. „Das war vorher nicht so.“

Gemeinsam bedeutet nicht, dass sich alle Allmendianer mögen müssen. Von diesem Anspruch vieler Kommunen aus den 70er-Jahren haben sie sich befreit. Auch an „Zweierkisten“ und an der „Kleinfamilien“ arbeitet sich niemand mehr ab. Und wer heiraten will, heiratet. „Die Kommunen, die sich heute gründen, sehen sich nicht in der Tradition der Kommune 1 der 60er-Jahre“, konstatiert der auf alternative Projekte spezialisierte Unternehmensberater Frieder Rock. "Man ist pragmatisch geworden."

Zwar raunen die Bauarbeiter auf den Gerüsten der letzten Allmende-Häuser, dass man höre, der Verein sei eine Sekte, gleichzeitig hat die Zahl der Interessenten die Zahl der Wohnungen bereits mehrfach überschritten, und das trotz eines vergleichsweise hohen Quadratmeterpreises, zu dem sich auch noch eine stattliche Summe für die großzügig bemessene Gemeinschaftsfläche gesellt. Auch die SSM leidet nicht unter Mitgliedermangel. Im Gegenteil: Gerade haben sie das Dachgeschoss in der alten Brennerei ausgebaut, um Wohnfläche für zusätzliche Mitglieder zu schaffen.

     Dabei erhoffen sich die Bewerber vom Leben in einer Kommune genau das, was viele dieser Lebensform spontan absprechen: eine langfristige Perspektive, Verbindlichkeit und Sicherheit. Auch die 44-jährige Petra Klein hat ihre Kommune, die „Kommunität Grimnitz e.V.“ in Joachimsthal in der Uckermark, als große Stütze erlebt. Im vergangenen Jahr nahm sich ihre Tochter aus Liebeskummer das Leben. „Wäre dieses Haus nicht gewesen, dieser Ort der Zuflucht, dann weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre“, sagt sie. „Es ist wirklich meine Familie, ohne die ich nicht mehr leben möchte.“

Dass ihr ihre elf `Familienmitglieder´ dennoch gelegentlich gehörig auf die Nerven gehen – vor allem, wenn sie die Küche nicht aufgeräumt haben oder Petra Klein fremde Menschen an den Frühstückstisch setzen –, ist die andere Seite des Gemeinschaftslebens. Aus diesem Grund hat die technische Assistentin, die an der Berliner Humboldt-Universität in einem biophysikalischen Labor arbeitet, auch lange mit dem endgültigen Eintritt in die Kommunität gezögert. Außerdem war sie sich nicht sicher, „wie man als Paar in einer so präsenten Gruppe leben kann“. Inzwischen beneidet sie ihren Lebensgefährten, der ständig in dem lachsfarben gestrichenen, ehemaligen Schulhaus mit dem großen Garten lebt, während sie aus beruflichen Gründen die Woche allein in ihrer Wohnung in Berlin verbringt. 

 

Die Kommunen halten der Anonymität und Vereinzelung in der modernen Gesellschaft Werte wie Solidarität und Gemeinschaft entgegen. Die Allmendianer, die auch sechs Sozialwohnungen auf dem Gelände gebaut haben, haben nach dem Einzug der ersten hundert Bewohner im vergangenen Sommer einen Chor, Volleyball- und Tischtennistraining sowie private Doppelkopf-Runden ins Leben gerufen. Die Sozialistische Selbsthilfe hat den Mühlheimer Kulturbunker und ein Haus für Alleinerziehende „gestemmt“. Jetzt arbeiten sie an der Wiederbelebung des alten Mühlheimer Industriegebiets. Läuft alles nach Wunsch wird dort eine Genossenschaft vom Typ „Allmende“ entstehen. „Ich denke, das ist die Zukunft“, sagt SSM-Vorstandsmitglied Michael Birkenbeul, „dass sich viele Leute zusammen tun und gemeinsam was auf die Beine stellen.“

Dass dabei vermutlich kaum eine Gruppe ein so radikales Konzept verfolgen wird wie die SSM, ist dem gelernten Koch und ehemaligen Kulturkneipenbesitzer klar. Dabei ist die Idee ausgesprochen charmant. „Du kriegst nicht deine Arbeit bei der SSM vergütet, sondern deine Mitgliedschaft, und insofern spiel es überhaupt keine Rolle, welche Arbeit du machst, denn es kriegen sowieso alle das Gleiche“, erklärt Michael Birkenbeul. Weil die SSM einen Großteil ihres Möbel-, Heiz- und Alltagsbedrafs über Recycling abdeckt, kommen die Mitglieder mit 150 Euro im Monat aus. „Dass ist immer wieder das Faszinierende für mich, dass man mit weniger Geld trotzdem besser leben kann“, sagt Heinz Weinhausen, der vor fünf Jahre seine Stelle als Krankenpfleger gekündigt hat.

Dabei genießt der 46-Jährige vor allem die Vielseitigkeit der Arbeit, die jeden Mittwochmorgen im großen Plenum im Erdgeschoss des Haupthauses verteilt wird. Der Raum wird von einem riesigen Tisch dominiert. Die Wand an der Fensterseite ziert eine verblasste Friedenstaube. Wilfried Stegemann, heute "Die Verwantwortung", schlägt eine graue Kladde auf. Gequält mustert er die schweigende Runde: „Wir haben eine Anfrage vom Theater wegen eines Klaviertransports. Es geht eine Wendeltreppe runter.“

„Die Verantwortung“ ist der ungeliebteste Job bei der SSM, noch vor dem Tragen von Klavieren. Auch sonst wägen die Mitglieder, überwiegend Männer, sehr genau ab, in welche Aufgabe sie ihre Arbeitskraft am jeweiligen Tag stecken wollen. Dabei berücksichtigen sie immer, was sie „wirklich, wirklich“ wollen, wie es der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann in seinem Konzept der „Neuen Arbeit“ formuliert hat. Bei Clemens Schramm kommt zu der Arbeit, die Geld in die Vereinskasse bringt, ein Schlagzeugtraining hinzu, bei Rainer Kippe, Sozialpädagoge und Mitbegründer der SSM, war es über viele Jahre eine Doktorarbeit. „Man kann aber auch einfach nur mal Fernsehen gucken“, sagt Michael Birkenbeul, der die Entwicklung der Industriebrache am Güterbahnhof mit der Kraft einer alten Diesellok voran treibt und so seiner Leidenschaft zur Stadtentwicklung frönt.

Gemeinsam gegen den Strom zu leben, funktioniert allerdings nur, wenn alle Mitglieder die Visionen und Werte der Kommune teilen."Einfach nur zu sagen: `Das ist ein tolles Gelände, da machen wir was draus´, reicht nicht", sagt der 38-jährige Bijan Fatemi, der zusammen mit zwölf anderen Parteien das lange als Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft genutzte "Gut Stolzenhagen" an der deutsch-polnischen Grenze gekauft hat.

Euphorisiert vom Charme der Wiesen, Schuppen und Häuser hatte die Gruppe anfangs darauf vertraut, dass sich "schon alles finden würde". Ein knappes Jahr später war der Häuslesanierer-Frieden euber "Blockade-Atmosphäre" gewichen. "Egal ob `Gemeinschaftsarbeit´, `Geld für Arbeit´ oder `Wie die Sanierung organisiert werden soll´- bei immer mehr Leuten entstand das Gefühl,: `Was ich gerne machen möchte, das geht nicht´", erinnert sich Bijan Fatemi. Als das Projekt schließlich zu platzen drohte, engagierten die Stolzenhagener frustriert einen Unternehmensberater. Auf sechs Sitzungen ersetzten sie das "Konsens minus 1"-Prinzip durch das Mehrheitsprinzip, schufen eigenverantwortliche Nachbarschaften und überführten den Verein schließlich in eine Genossenschaft, die jährlich von einem Verband geprüft wird. zwei Mitglieder verließen daraufhin das Projekt.

So schmerzhaft das für die Betroffenen ist: solche Häutungen scheinen normal zu sein. Bei der Allmende sind ebenfalls zwei Gründungsmitglieder ausgestiegen, und auch bei der christlichen "Kommunität Grimnitz" hat ein Teil der Belegschaft in den vergangenen acht Jahren gewechselt. "Wir haben es nach außen `Zellteilung´genannt", sagt Gründungsmitglied Claus-Dieter Schulze. Dabei hatte es auch Streit um die Führung gegeben. Heute praktizieren sie das Modell des "jeweiligen Projektchefs". So kümmert sich der pensionierte Pastor "CD" um das Haus, die internationalen Workcamps und ein Hilfsprojekt in Argentinien, Hans-Jürgen Fischbeck, Physiker und Gründer von "Demokratie hetzt", leitet ein Hilfsprojekt in Tansania und die Bauarbeiten am neuen Kommunitätssitz, seine Frau Jutta, Ökonomin, hat die Finanzen unter sich, und der Lebensgefährte von Petra Klein, ein Biologe, kümmert sich um den Interkulturellen Garten. Darüber hinaus gilt der "zwanglose Zang des besseren Arguments".

Den pfeltg auch die Sozialistische Selsbthilfe, kombiniert mit einer „Hierarchie der Erfahrung“ und manchmal auch der Höhe des Adrenalinspiegels. Die Allmendianer haben sich in ihrer Satzung die Form einer Miniaturdemokratie, ähnlich dem Bundestag mit seinen parlamentarischen Ausschüssen, verliehen. Die Entscheidungen, die die Mitgliederversammlung mit einfacher Mehrheit trifft, werden in Arbeits- und einer Lenkungsgruppe vorbereitet. 

Noch befindet sich die Allmende am Anfang ihrer Praxis- und Alltagsphase. Und so wie die einzelnen Hausgemeinschaften in Eigenarbeit die ersten Wege pflastern – die einen singend, die anderen streitend – muss sich auch die Allmende selbst noch ihren Weg bahnen.

Auch die 26 Jahre alte SSM ist mit ihren Ideen noch nicht am Ende. Der 25-jährige Gunnar Gast spielt mit dem Gedanken an einen Party- und DJ-Dienst, ein DJ-Equipement zu beantragen, Ranne Michels möchte die neue Gästeetage besser vermarkten, "weil ich mir vorstellen kann, auch mit 70 noch Gäste zu betreuen", und Michael Birkenbeul arbeitet parallel zu seinem Städteentwicklungsprojekt an einem Konzept der "Weißmöbel-Reparatur",, bei der Bauteile von ausrangierten Waschmaschinen und Kühlschränken wiederverwertet werden sollen. 

Draußen auf dem Hof genießt derweil das LkwTeam die letzten Sonnenstrahlen. Asia Schramm hat einen Karton mit Eis neben die leeren Teller gestellt. Durch das ehemals so gut gesicherte Tor kommen die ersten Kunden. Auch Freddy macht sich auf den Weg. Er hat Ranne angeboten, im Secondhandladen zu saugen. Vorher muss er aber noch schnell von seiner neuen Geschäftsidee erzählen: "Du weißt doch noch, dass ich zwei Hamster habe..."