"Maßgeblich ist die Menschenwürde"

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 3/2011

Die Psychoanalytikerin und Jahrhundertzeugin Margarete Mitscherlich im Gespräch über den Umgang mit gesellschaftlichen Grenzen – und über die, die das Alter mit sich bringt.

Wann haben Sie zum letzten Mal eine Grenze gespürt?

Das Alter ist eine Grenze. Früher habe ich mich entweder, wenn ich mich beengt fühlte, ins Auto oder auf mein Rad gesetzt und bin einfach mal verreist. All diese Dinge, die für mein Wohlergehen sehr wichtig waren, sind nicht mehr drin. Selbst in den allernächsten Park Das war für mein Wohlergehen sehr wichtig und ist jetzt nicht mehr drin. Selbst in den nahen Park gehen zu können, ist für mich sehr schwierig geworden, weil ich leicht stolpern und fallen könnte.

Ihr jüngstes Buch heißt „Die Radikalität des Alters“. Das klingt nicht nach Beschränkung.

Die inneren Grenzen verschwinden mit dem Alter. In meiner Jugend dachte ich oft, um Gottes Willen, da bist du eifersüchtig oder neidisch oder hast etwas gesagt, was wirklich illoyal war und dir leid tut. Diese übertriebenen Schuldgefühle nehmen ab. Ich spüre, wenn man so will, keine unnötiigen inneren Grenzen in mir. Außer dass ich ein anständiger Mensch sein möchte.

Oft wird unsere Gesellschaft so dargestellt, dass auf der einen Seite die produktiven Jungen stehen, auf der anderen Seite die einsamen Alten. Fühlen Sie diese Spaltung?

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so ist. Wenn jemand allein lebt, muss er nicht automatisch einsam sein. Aber es ist natürlich so, dass die Befreiung von gesellschaftlichen und religiösen Zwängen, für die wir lange und zu recht gekämpft haben, zu einem gewissen Respektverlust gegenüber alten Menschen geführt hat.

Wie meinen Sie das?

Früher gab es die Vorschrift, das Alter zu ehren und die Würde eines alten Menschen zu achten, der ja doch eine ziemliche Strecke durch ein nicht immer leichtes Leben gegangen ist. Diese Vorschrift hat sich mehr oder weniger aufgelöst. Stattdessen muss jeder für sich selbst festlegen, wie er mit der Würde eines alten Menschen umgeht. Und diese Arbeit macht sich nicht jeder.

Sie haben erlebt, wie wenig die Menschenwürde in der NS-Zeit geachtet wurde Wie konnten damals so viele Menschen die Grenzen der Humanität überschreiten?

Ich glaube, das versteht niemand wirklich. Man hatte diese sehr falschen Ideale, die einem eingeprägt wurden. Dazu kam die Herzenskälte. Die Menschen waren kalt und blind gegenüber den Juden. Alles zusammen hat unfähig gemacht zum Denken. Wobei diese Größenfantasien nicht vom Himmel gefallen sind, sie waren in der Gesellschaft vorhanden.

Wie haben Sie als Kind und Jugendliche die Deutschen damals erlebt?

Ich bin in einer deutsch-dänischen Familie aufgewachsen und als Kind ständig zwischen Deutschland und Dänemark hin- und hergereist. In Vielem waren mir die Dänen lieber. Vor allem, weil sie über sich lachen konnten und sich nicht so ernst nahmen. Der Sinn für Humor stand nicht hoch im Kurs unter den Nazis.

Viele Menschen haben nach dem Krieg erklärt, dass sie von den Konzentrationslagern nichts gewusst hätten. Sie und ihr Mann haben dieser Behauptung vehement widersprochen. Was hat Sie so sicher gemacht?

Die Redewendung „bis zur Vergasung“ war in der Nazizeit in aller Munde. Es war also untergründiges Wissen vorhanden. Auch dadurch, dass man nicht mit Juden zusammen kommen durfte und Juden einfach verschwanden, war klar, dass etwas Fürchterliches mit ihnen geschah. Dass das Gros derBevölkerung das tatsächliche Ausmaß der Grausamkeit kannte, glaube ich allerdings nicht.

Sie selbst sind als Studentin von der Gestapo verhaftet worden, weil Sie zu einer Gruppe gehörten, die den Nationalsozialismus ablehnte. Trotzdem verteidigten Sie jüngst den Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens. Er hatte als Student Partei für die Nazis ergriffen. Wie passt das zusammen?

Dass mit dem Bekanntwerden seiner Demenz plötzlich ein großes Brimborium über seine Vergangenheit gemacht wurde und die Demenz damit in Verbindung gebracht wurde, fand ich absurd. Menschen verfallen in ihrer Jugend in Irrtümer, und Walter Jens hat wenig später ganz anders gedacht.

Sie haben sich damals von den Nazis nicht vor den Karren spannen lassen.

Nein. Aber offen gestanden war ich durchaus erleichtert, dass nie jemand zu mir gekommen ist und mich gebeten hat, ihn vor den Nazis zu verstecken. Ich wäre in einen tiefen Gewissenskonflikt geraten: Mein Gott, du kannst ihn nicht hier in deiner Studentenpension verstecken, aber du kannst ihn doch auch nicht wegschicken. Ich kann nichts Heroisches mitteilen. Leider.

Die Vorwürfe gegenüber Walter Jens scheinen Sie sehr geärgert zu haben.

Ich fand die Verbindung von Demenz und Scham über eine eventuelle Parteizugehörigkeit degoutant.

 

Vielleicht zeigt es aber auch, wie groß der Wunsch ist, dass Menschen klare moralische Normen haben?


Es gibt den Kategorischen Imperativ von Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Das andere ist die Menschenwürde, die in unserer Verfassung verankert ist. Klare moralische Normen, die auf gegenseitiger Achtung beruhen, erleichtern das Leben sehr.

 

Wann muss man anderen gegenüber Grenzen setzen?

 

Wenn Menschen einem anderen gegenüber taktlos, ungerecht oder gar brutal oder handgreiflich werden, ist das unerträglich. Was anderes ist es, wenn man eine Grenze setzt, um sich Vorteile zu verschaffen oder seine Ruhe zu haben, wie es oft gegenüber Kindern der Fall ist. Grenzen setzen muss also mit einer bestimmten Einsicht verbunden sein. Einsicht sich selbst und anderen gegenüber.

 

Manche Menschen errichten auch in ihrem Inneren Barrieren. Was passiert dann?

Wenn man die Begrenzung solcher Menschen ansieht, was Gefühle, Denken und Fantasien betrifft, ist das sehr traurig. Die verhärten und hören auf, so etwas wie Lust am Denken zu haben und sind meist gefühlsunfähig. Das ist eine Art Seelentod.

 

Nach dem Krieg haben Sie und ihr Mann in Ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ die Kriegsgeneration zum Trauern aufgerufen. Wäre die Aufforderung zum Schämen nicht passender gewesen?

 

Wenn ich jemanden verloren habe und trauere, denke ich dauernd an ihn und beschäftige mich mit der gemeinsamen Vergangenheit. Und um dieses Nachdenken ging es uns. Wir haben gehofft, dass die Menschen erkennen, was für einen Verlust an Menschenleben, an Liebe, an Zuwendung, überhaupt an Menschlichkeit, während der Nazizeit stattgefunden hat. Wir haben die kollektive Trauer mit einer Suche nach Wahrheit gleichgesetzt, die zu betrauern auch eine Lösung von falschen Fixierungen bedeutet.

Wie haben die Menschen auf Ihren Vorschlag reagiert?

Natürlich haben uns viele angerufen und geschrieben, positiv und negativ.. . Aber ich habe deswegen nicht nachts wachgelegen. Das war eher ein `So ist das eben´.

 

Hält Sie der Gedanke an den Tod nachts wach?

 

Wir werden mit einem Todesurteil geboren. Also man weiß, dass man stirbt. Und ich glaube, man realisiert es ab dem Zeitpunkt, wo man merkt, dass man täglich Abschied von etwas nimmt. Abschied von Dingen, die man mal gekonnt hat, Abschied von Menschen, mit denen man verbunden war, Abschied vom Verdrängen der eigenen Sterblichkeit.

 

Sie wirken aber nicht resigniert.

 

Ich könnte natürlich gegen das Alter wüten, aber das ist sinnlos. Ich finde trotzdem, dass sehr viel Mut dazu gehört, alt zu werden. Und ich verstehe auch, wenn sich jemand das Leben nimmt, bevor er die Kontrolle über Körper und Geist verliert. Aber die Art, wie heute ein Freitod angeboten wird, geschäftsmäßig eine Pille oder eine Ampulle nehmen, ist doch sehr trostlos.

 

Über den selbstgewählten Freitod gibt es unterschiedliche Meinungen.

 

Ich denke die Entscheidung, wann man diese letzte Grenze überschreiten will oder nicht, sollte jeder für sich treffen. Maßgeblich für mich ist, dass die Würde des Menschen geachtet wird.

 

Was spricht dafür, möglichst lange in der Welt zu bleiben?

Als alter Mensch kann man Jüngeren oft sehr gut helfen. Denn die berufliche und geschlechtliche Rivalität, die einen früher gelegentlich daran gehindert hat, empfindet man nicht mehr. Eigene Erfahrungen und Erkenntnisse weiter zu geben, ist ein positives Erlebnis. Dadurch entstehen oft sehr nachdenkliche und einfühlende Momente. Und das kann durchaus etwas Festliches haben.