Selbst ist der Mensch

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 1/2010

Es war einmal ein Trend, der hieß "Doit yourself". Dann kam die Globalisierungund mit ihr eine Flut immer billigerer Konsumgüter. Selbstgemachtes galt altmodisch. Man warf weg, was kaputt war. Nun hat das Umdenken begonnen. Von "urbaner Subsistenz" sprechen die Fachleute. Ein Wirtschafts- und Lebensmodell, das offenbar immer mehr Menschen anziehend finden und die Folgen des Klimawandels abmildern kann.

Ein sonniger Herbsttag in einem kleinen Dorf in Ostwestfalen Ende der 60er Jahre. Auf der Hauptstraße ziehen zwei Kinder einen Bollerwagen mit einem gebrochenen Lattenrost hinter sich her. Peinlich ist ihnen das. Nicht weil ihnen der Lattenrost beim Hüpfen auf dem Bett kaputt gegangen ist – dass sie ihn zum Tischler fahren, ist das Problem. Andere werfen kaputte Sachen weg. „Nur bei uns musste alles  repariert werden“, sagt die Wirtschaftssoziologin und Leiterin der Münchner Stiftungsgemeinschaft Anstiftung & Ertomis Christa Müller.

Inzwischen schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung. Überall stößt die einstige Bollerwagenlenkerin auf gemeinnützige Selbermachzentren mit Holz-, Metall- und Textilwerkstätten. Auch Handwerkskurse von Privatanbietern boomen. Die Firma Dick aus dem niederbayerischen Metten, die mit japanischen Werkzeugen handelt, bildet jedes Jahr mehr als 2000 Interessierte in traditionellen Handwerkstechniken wie Böttchern, Wagnern, Schmieden und Schreinern aus. Die jüngsten Teilnehmer sind 20, die ältesten 70, viele von ihnen, sagt Kursleiterin Ute Kaiser, kämen aus Berufen, „in denen sie gar nichts mehr mit den Händen machen“.

Offenbar ist bei vielen Menschen eine innere Grenze erreicht. Die Konzentration auf die Kopfarbeit, die Entkopplung von Produktion und Verbrauch, die Anonymität des globalen Markts und die Entfremdung von der Natur werden ihnen unheimlich. Zudem erhöhen das Wissen um die Ursachen und Folgen des Klimawandels den Druck, nach Lebensstilen zu suchen, die weniger schädlich und zerstörerisch sind. Die einst als kitschig und romantisierend geschmähte Subsistenz-Ökonomie bietet sich da an. Anders als die Marktökonomie, die auf Konsum und Überschuss setzt, ist ihr Ziel, das wirtschaftliche, soziale und ökologische Gefüge zu erhalten.

Zudem bietet die Eigen- und Versorgungsarbeit den Menschen die Chance, so zu arbeiten, wie sie es für richtig halten. Nicht ein Chef, der Takt der Maschinen, Liefertermine oder Rendite- und Gewinnvorgabe entscheiden über Arbeitstempo, Arbeitsplanung und Qualität, sondern der Schaffende selbst. Das Institut für angewandte Verbraucherforschung und die Universität Hohenheim haben vor einigen Jahren in zwei Studien die Wirkung von Eigen- und Versorgungsarbeit untersucht. Sie fanden heraus, dass die Menschen das selbst bestimmte Schaffen als „persönlich hoch befriedigend“ wie auch als „sozial wichtig“ empfinden. „Subistenzarbeit trägt den Lohn in sich selbst“, lautet das Fazit der Wissenschaftler. 

Gleichzeitig schont die Eigen- und Versorgungsarbeit das Budget. Anhand der Protokolle, in denen die Studienteilnehmer ihre Eigen- und Versorgungsarbeit dokumentierten, errechneten die Wissenschaftler, dass der Wert der unbezahlt erbrachten Leistung durchschnittlich zehn Prozent des Nettoeinkommens beträgt. Allein das Kochen bringt im Vergleich zum Kauf von Fertiggerichten und der Kantinen- und Imbissversorgung rund 200 Euro monatlich ein. Bei den handwerklich besonders Versierten stieg die Quote der eingesparten Fremdleistung sogar auf bis zu 25 Prozent ihres Nettoeinkommens.

Die Befürworter des Subsistenz-Gedankens setzen auf eine Zunahme der Eigen- und Versorgungsarbeit. Klimaforscher und Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass die Lebenshaltungskosten in den nächsten Jahrzehnten drastisch steigen werden. Die Menschen in den Schwellenländern wollen am westlichen Wohlstand teilhaben und werden immer mehr der immer knapper werdenden Rohstoffe und Böden für sich beanspruchen. Viele Produkte, die für einen großen Teil der Europäer heute selbstverständlich zum Leben dazu gehören, werden dann zu Luxus. Das gilt für Benzin, genauso wie für regenerative Energien, für deren Gewinnung seltene und deshalb teure Mineralien benötigt werden. Auch technische Geräte wie Handys und Computer sind auf seltene Rohstoffe angewiesen.

Wegen des Wassermangels und der zunehmenden Bodenerosion und Wüstenbildung, hervorgerufen durch die Erdwärmung, werden zudem die Preise für Getreide, Gemüse, Obst und Fleisch gewaltig nach oben klettern. Agrarexperten rechnen damit, dass in Europa bis zu einem Viertel eines durchschnittlichen Familienbudgets in Zukunft für die Ernährung eingeplant werden muss. 2008 hat es in den Entwicklungs- und Schwellenländern bereits die ersten Reis- und Maisengpässe gegeben. 

Gleichzeitig wird die Menge der bezahlten Arbeit weiter abnehmen, weil die Automation voranschreitet und dieselbe Gütermenge mit immer weniger Menschen erzeugt werden kann. Christa Müller hält die Versicherung vieler Politiker, dass im Prinzip alles so bleiben wird wie es ist und sich die Menschen lediglich auf ein bisschen weniger Autofahren und Fliegen einstellen müssen, daher für unrealistisch. „Der westliche Lebensstil wird in Zukunft nicht mehr bezahlbar sein“, ist sich die Wirtschaftssoziologin sicher.

Ob damit automatisch ein Verlust an Lebensqualität einhergeht, wie viele Menschen befürchten, ist fraglich. Der Besitz des mordernen Menschen setzt sich aus allerlei Pseudo-Wohlstand zusammen. Vieles, was teuer eingekauft wurde, wird kaum oder nie benutz. Andere Sachen wiederum werden allein deshalb angeschafft, weil der Nachbar oder Kollege sie ebenfalls haben oder weil sie zum sozialen Status gehören. Für anderes wird Geld ausgegeben, weil es gerade billig ist. Auch viele Frust- und Belohnungskäufe vergrößern den Geldbedarf, genauso wie Wellness-Produkte und Medikamente gegen Krankheiten, die dem zunehmenden Stress, der Umweltverschmutzung und der mangelnden Bewegung geschuldet sind.

Die Vertreter der Subsistenz sehen in der Wirtschafts- und Wohlstandkrise deshalb auch eine Chance für die westlichen Gesellschaften. Christa Müller ist überzeugt, "dass die Menschen die Erde eigentlich nicht zerstören wollen" und nach dem ersten Umlernschock vermutlich sogar dankbar sein werden, wenn das Wettrennen um noch mehr Geld und noch mehr Waren wieder einer ruhigeren und gesünderen Gangart weicht. Auch die Ungleichheit zwischen arm und reich könnte etwas abnehmen. Immaterielle Werte, wie sie durch Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement entstehen, kann jeder schaffen. Und auch beim gemeinsamen Gärtnern und Handwerken sind soziale Herkunft und beruflicher Status egal.

So paradox es klingt, könnte ein Mehr an unbezahlter Arbeit die Gesellschaft tatsächlich bereichern. Ein Rückfall in vorindustrielle Zeiten ist deshalb nicht gleich zu befürchten. Die Subsistenzarbeit soll die Erwerbsarbeit nicht ersetzen, sondern ihre Auswüchse begrenzen. Das ist übrigens ganz im Sinne von Aristoteles. Der griechische Vordenker und Philosoph gab bereits vor 2300 Jahren zu Bedenken, „dass der Sinn des Wirtschaftens die Produktion für den Gebrauch und nicht die Produktion für den Gewinn“ sei.